Heikle Aufgaben souverän gelöst
Die selten gespielten "lutherischen Messen" bei den Aachener Bachtagen
Von Pedro Obiera
Aachen. Dass es selbst bei einem rundum durchleuchteten Giganten wie Johann Sebastian Bach noch manches zu entdecken gibt, zeigte das von Georg Hage zusammengestellte und geleitete erste Chorkonzert der diesjährigen Aachener Bachtage in der prall gefüllten Kirche St. Michael. Die sogenannten "lutherischen Messen" Bachs sind kaum bekannt, die Verwendung der lateinischen, auf das Kyrie und Gloria beschränkten Messen ist noch immer nicht hinreichend geklärt. Dabei handelt es sich um relativ späte Werke aus den Jahren um 1739, in denen Bach besonders geeignete Teile aus früheren Kantaten bearbeitete und neu zusammenfügte.
Entstanden ist ein Quartett von vier jeweils halbstündigen Messvertonungen, das alle Qualitäten Bachscher Kompositionskünste in komprimierter Form aufweist und den Ausführenden - neben dem mit anspruchsvollen Aufgaben betrauten Chor auch dem Orchester und einem Solistenquartett - nicht weniger abverlangt als die bekannten großen Chorwerke.
Was die vokale und instrumentale Qualität der Aufführung angeht, kann man sich glücklich schätzen angesichts eines Chores, der die teilweise extrem diffizilen Partien inklusive filigran verästelter kontrapunktischer Strukturen so makellos und sicher bewältigen kann wie der Kammerchor des Bachvereins. Dass es in Sachen Intonation, Tonbildung, Phrasierung und Textverständlichkeit so gut wie nichts auszusetzen gibt, kann nach jedem Konzert immer nur stereotyp wiederholt werden. Und auch das versierte, äußerst flexibel reagierende Ensemble für Alte Musik "arcipelago" lässt sich von den heiklen Aufgaben nicht in Bedrängnis bringen. Auch mit dem Solistenquartett traf Hage eine gute Wahl. Gabriele Hierdeis (Sopran), Elisabeth Popien (Alt), trotz einiger angestrengter Spitzentöne Florian Cramer (Tenor) und Raimund Nolte (Bass) gaben den Arien das nötige Profil.
Freilich kann auch die unerschöpfliche Kreativität Bachs nicht verhindern, dass sich die mit Sicherheit nicht für eine geschlossene Aufführung im Viererpack gedachten Werke im Aufbau und Stil so weit ähneln, dass es dem Abend an kontrastierender Abwechslung mangelte. Zwei Messen, gekoppelt mit zwei der von Bach verwendeten Kantaten, hätten gereicht, um an die kompositorische Bedeutung der Raritäten zu erinnern.
Das ist freilich nur als kleiner Einwand angesichts einer hochkonzentrierten Glanzleistung zu verstehen, die das Publikum entsprechend begeistert feierte.